KIM
- NATTY

- 18. Apr. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Aug.

Für Kim
Manchmal frage ich mich, wie ich unsere Freundschaft beschreiben soll. Wir waren zwei Kinder, die in Baggy Pants und Homeboy Pullis durchs Leben liefen, die gerade erst herausfinden wollten, wer sie sind. Vielleicht waren wir ein Stück weit auf der Suche – nach Stil, nach Halt, nach uns selbst.
Und irgendwann sind wir beide – fast gleichzeitig – in die schwarze Szene hineingerutscht. „Kir“, die Schwarze Nacht. Okkulte Bücher, tropfende Kerzen, schwarze Wände, Räucherstäbchen im Kinderzimmer. In den Elbvororten unverstanden von den Menschen um uns herum. Für andere war es nur Verkleidung, eine Maskerade. Aber für uns war es ein Lebensgefühl. Kein Spiel, kein Kostüm – sondern ein Ausdruck dessen, was in uns war: Sehnsucht, Fragen, Dunkelheit, Tiefe.
Du warst viel stärker in dieser Szene als ich. Ich mochte den Stil, die Musik, dieses Gefühl von Anderssein. Aber ich habe mich oft unsicher gefühlt. Vielleicht war es nicht meine Welt, nicht ganz. Und vielleicht mochtest Du mich auch gerade deshalb so gern – weil ich für Dich wie eine Brücke war. Eine Brücke hinein in die Welt Deiner Schwester, Deiner Eltern...
Ich erinnere mich so gut an diese Abende vor meinem Elternhaus. Sie hatten mich eingeschlossen, aus Sorge, ich könnte in meinem pubertären Leichtsinn abhauen. Aber Du hast immer einen Weg gefunden für mich da zu sein. Mit Deinem Quix Messenger standest Du draußen, hast nach oben geschaut, gewartet, Quatsch gemacht, Du warst einfach da und hast Dich auf den Kantstein gesetzt bis es dunkel wurde...
Die Nachrichten waren teuer, aber wir brauchten nicht viele Worte: „Hab dich lieb. Bin immer da.“ Das war genug. Das war alles. Heute bist Du nicht mehr da. Zumindest nicht so, wie ich Dich kannte. Du wurdest der Welt genommen, und die Medien haben Dich zu einer Schlagzeile gemacht.
Sie sprachen von „Hoffnungslosigkeit“, „Todessehnsucht“, „Psychofallen“. Aber sie haben Dich nicht gekannt. Sie sahen nur eine Szene, ein Klischee, eine Projektionsfläche. Für mich aber warst Du niemals eine Schlagzeile. Für mich warst Du Kim. Mein Freund. Mein "Bruder". Mein Halt.
Und dieser Verlust… er fühlt sich damals an, als hätte jemand einen Teil von mir herausgerissen. Nicht nur Dein Leben ist verloren gegangen, sondern auch all die Gespräche, das Lachen, die Stille, die Pläne, die wir nie mehr leben werden. Aber eines bleibt: die Erinnerung. An Dich, an uns. An Dein Warten vor meinem Fenster. An Dein Lachen. An Kerzen, Räucherstäbchen, schwarze Wände. An das Lebensgefühl, das wir teilten. An die Brücke, die wir füreinander waren.
Du fehlst mir, Kim. Aber Du bist noch da. Immer...
Es gibt wohl keinen Kriminalfall in der deutschen Geschichte, der nachhaltiger für den schlechten Ruf der Gothic-Szene sorgte, als der Satansmord von Witten. 2001 ermordeten Daniel und Manuela Ruda den damals 33-jährigen Frank mit 66 Messerstichen, Hammerschlägen und zerstückelten die Leiche mit einer Machete. Die meisten "Grufties" sahen sich seinerzeit mit der Thematik konfrontiert, das mediale Interesse war riesig, die Wellen, die der Fall schlug, waren meterhoch. Der Konsens war eindeutig: Grufties sind Satanisten, die Gefahr durch die Szene ist allgegenwärtig. Wie immer suchte man nach Gründen, Ursachen und Auslösern, die die dankbaren Redakteure massenhaft in der Szene vorfanden. Die Tat des durchgeknallten Ehepaars wurde zum Stempel einer Subkultur.
Das ZDF-Magazin „Aspekte“ besuchte Manuela Ruda Jahre nach dem Mord, um mit ihr zu sprechen. Die geläuterte Mörderin und eine immer noch aktive Szene reichten augenscheinlich aus, den Fall nochmals aufzugreifen. Natürlich nur, um aufzuklären und zu warnen. Irgendwie.
„Angefangen hat alles in der Grufti-Bewegung, ca. 10000 Anhänger lieben den Charme der sogenannten schwarzen Szene. Manuela Ruda war eine davon. Grufti sein, das heißt Melancholie und Tristesse, Mittelalterflair und Extravaganz, Hoffnungslosigkeit und Todessehnsucht. Und nicht wenige sympathisieren mit okkulten und satanistischen Ideen. Ein schwarzes Paralleluniversum, eine Maskerade und Ersatzrolle zum Alltag. Doch was für Manuela Ruda als Lifestyle begann, wurde zur Psychofalle.“
Wem läuft es bei dieser Beschreibung nicht kalt den Rücken herunter? Absurder geht es nicht. Hoffnungslosigkeit und Todessehnsucht. Ich könnte schreien, mich aufregen und fluchen. Ich denke darüber nach, ob es richtig ist, diesem Schwachsinn erneut eine Plattform zu bieten, in alten Wunden zu wühlen und Narben wieder aufzureißen. Aber nur kurz. Ich halte es für unausweichlich, diese 5:46 ausführlich zu kommentieren. Vielleicht Selbstschutz oder ein Drang danach, seine Gedanken aufzuschreiben.
„Die Gutachter bescheinigen ihr eine narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Die Tat, ein Mix aus Sehnsucht nach Anerkennung, Selbstinszenierung und einer labilen Persönlichkeit, die in den Sog ihres satanistischen Umfeldes geriet. Und nach der Tat wird der Prozess zur neuen Bühne.“ Und plötzlich wird aus der Gruftie-Szene ein satanistisches Umfeld. Einfach so. Der Beitrag untermauert diese Vermutung mit der Ermordung des 20-jährigen Grufti Kim Becker, dem das ZDF bei der Sendung Mona Lisa einen ähnlichen Beitrag widmete. In dem heißt es auszugsweise: „Grufti-Sein ist zur Schau getragene Tristesse, Hoffnungslosigkeit und Resignation (…)“ Habe ich das nicht schon einmal gehört? Egal, wir bleiben bei dem Bericht der Sendung „Aspekte“:
„Im Jahr 2002 wird der 20-jährigen Gruftie Kim Becker in Meschensee bei Hamburg von Bekannten aus der schwarzen Szene ermordet. Eine Nachahmungstat und oft kommen nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer aus der schwarzen Subkultur. Kims Mörder sah im Ruda-Mord sein Vorbild (…)“
Ausstiegsberaterin Silvia Eilhardt vom Wittener Jugendamt hilft jungen und verblendeten Satanisten bei ihrer Bewältigung und hat über das Phänomen eine klare Meinung: „Ich habe darauf gewartet, für mich war das wichtig, dass aus dem Kultstatus herauszutreten und sich auch zu der Tat zu bekennen ich denke mir das ist ein sehr wichtiger Schritt, auch für mich in der Beratung klar zu demonstrieren, Satanismus ist kein Witz Satanismus ist keine Inszenierung, Satanismus führt zu Mord.“
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