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ICH WOLLTE NOCH WAS SAGEN

  • Autorenbild: NATTY
    NATTY
  • 21. Aug.
  • 3 Min. Lesezeit

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Gegen das Gefühl der Schuld, nicht alles gesagt zu haben, gibt es ein einfaches, stilles Ritual: Schreibe eine Abschiedsrede. Nicht für die Öffentlichkeit, nicht für andere – nur für dich.

Eine Rede, in der du sammelst, was dir wichtig war. In der du formulierst, was unausgesprochen blieb. Eine Rede, die aus deinem Herzen durch deine Hand aufs Papier fließt.

Dieses Papier ist, wenn es mit Liebe geschrieben ist, ein Schatz.

Manchmal behält man es. Manchmal verbrennt man es in einem kleinen, persönlichen Zeremoniell. Manchmal gibt man es dem Wasser oder legt es am Grab nieder. Das „Wo“ ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass man sich Zeit nimmt, mit den eigenen Gedanken und Gefühlen ins Reine zu kommen.


Wir leben in einer Zeit, in der wir fast alles digital erledigen. Doch die Geste des Schreibens mit der Hand hat eine besondere Kraft. Vom Kopf durch die Hand, durch die Tinte auf Papier – und vielleicht sogar noch einmal in einer Reinschrift – wird die Wichtigkeit deutlich. Es wird verinnerlicht. Es bleibt.


Ein solcher Brief oder eine Rede ersetzt kein Gespräch, das nie geführt wurde. Aber sie schafft einen Raum. Einen Raum, in dem du ausdrücken darfst, was dich bewegt. Einen Raum, in dem Heilung beginnen kann.

Denn das Ungesagte verschwindet nicht von allein. Aber wenn du es zu Papier bringst, veränderst du es. Du nimmst es aus deinem Kopf heraus, gibst ihm Form – und damit auch einen Platz. Es ist ein Prozess, der nicht laut, aber heilsam ist.



Warum Schreiben hilft

Das Aufschreiben von Gefühlen und Gedanken ist eine Form des expressiven Schreibens – eine Methode, die in der Psychologie seit Jahrzehnten erforscht wird. James Pennebaker, einer der bekanntesten Wissenschaftler auf diesem Gebiet, zeigte, dass Menschen, die regelmäßig belastende Ereignisse aufschreiben, weniger Stresssymptome haben und sogar körperlich gesünder sind (Pennebaker & Beall, 1986).


Schreiben ist mehr als Denken

Beim Schreiben passiert mehr, als nur Gedanken festzuhalten:

  • Kognitive Verarbeitung: Das chaotische innere Erleben wird in eine narrative Form gebracht. Dadurch gewinnt man Abstand und Ordnung.

  • Emotionale Verarbeitung: Gefühle werden nicht mehr nur gefühlt, sondern gestaltet – dadurch verlieren sie an roher Intensität.

  • Körperliche Beteiligung: Handbewegungen, Schriftzeichen, Wiederholungen – das aktiviert motorische und sensorische Netzwerke im Gehirn und verstärkt den Effekt des Verinnerlichens (Smyth, 1998).


Das Ritual des Loslassens

Ob man die Rede behält, verbrennt oder niederlegt: Rituale haben eine wichtige psychologische Funktion. Sie signalisieren dem Gehirn, dass ein Abschnitt beendet ist. Studien zeigen, dass Rituale helfen können, Trauer, Schuld oder Unsicherheit zu verarbeiten – selbst dann, wenn man nicht an eine höhere Bedeutung glaubt (Norton & Gino, 2014).




Eine eigene Abschiedsrede ist kein Ersatz für Gespräche, die man nicht geführt hat. Aber sie ist ein Werkzeug, das dir erlaubt, Worte zu finden, wo Schweigen geblieben ist. Sie kann nicht die Vergangenheit ändern, aber sie kann die Gegenwart leichter machen.

Heilung geschieht nicht nur in Gesprächen mit anderen, sondern auch im Dialog mit uns selbst. Und manchmal ist ein Blatt Papier der ehrlichste Zuhörer, den wir haben.



Quellen

  • Pennebaker, J. W., & Beall, S. K. (1986). Confronting a traumatic event: Toward an understanding of inhibition and disease. Journal of Abnormal Psychology, 95(3), 274–281.

  • Smyth, J. M. (1998). Written emotional expression: Effect sizes, outcome types, and moderating variables. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 66(1), 174–184.

  • Norton, M. I., & Gino, F. (2014). Rituals alleviate grieving for loved ones, lovers, and lotteries. Journal of Experimental Psychology: General, 143(1), 266–272.




 
 
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