HEILUNG
- NATTY

- 21. Aug.
- 3 Min. Lesezeit

Und irgendwann macht es puff.
Du stellst fest, dass du schon lange nicht mehr an die Vergangenheit gedacht hast. Ganz plötzlich ist der Knoten geplatzt. Die Verknüpfung zu etwas oder zu jemandem, die dich davon abgehalten hat, weiterzukommen, ist einfach verschwunden.
In dem Moment, in dem dir auffällt, dass du nicht mehr fühlst, wie du sonst gefühlt hast, gehst du deine Emotionen wie in einem Schnelldurchlauf durch. Und es irritiert dich, weil der Schmerz, der so lange dein Begleiter war, nicht mehr da ist. Stattdessen ist da eine Stille.
War das nun der Lohn all der Arbeit? Die vielen Gespräche mit Freund:innen, das Lesen von Ratgebern, die zahllosen Nächte, in denen du Social-Media-Beiträge studiert und dich zum 27.000. Mal über die gleiche Wunde gedreht hast? All das, während du dachtest: „Es tut sich nichts. Es heilt nicht.“
Wir alle kennen den Spruch: Die Zeit heilt alle Wunden. Und wir alle kennen Wunden, die sich diesem Satz zu widersetzen scheinen. Aber vielleicht stimmt er doch? Wunden heilen – nur dass sie Narben hinterlassen. Und jeder, der schon einmal eine größere Operation hatte, weiß: Narben sind nicht stumm. Sie können dumpf ziehen, manchmal sogar schmerzen. Aber es sind andere Schmerzen. Weniger stechend, weniger überwältigend.
So ist es auch mit dem Herzen. Zuerst scharf, brennend, kaum auszuhalten. Dann legt sich eine schützende Schicht darüber. Und was machen wir? Wir kratzen daran. Immer wieder. Weil wir nicht anders können. Weil wir glauben, dass wir uns der Wunde nur widmen müssen, um sie loszuwerden.
Und dann, eines Morgens, wachst du auf – und stellst fest: Du bist nicht mehr Teil des Schmerzes. Der Schmerz ist Teil deiner Geschichte geworden. Er hat sich in dir verwandelt. Nicht mehr als offene Wunde, sondern als etwas, das dich wachsen ließ. Vielleicht ist Heilung genau das: ein unsichtbarer Prozess, der uns im Verborgenen verändert, während wir selbst glauben, auf der Stelle zu treten.
Warum fühlt sich Heilung nicht wie Heilung an?
Heilung ist kein linearer Prozess. Neurobiologisch ist der Schmerz eng mit dem limbischen System verbunden – besonders mit der Amygdala, die Emotionen verarbeitet, und dem Hippocampus, der Erinnerungen speichert (McEwen, 2007). Solange diese Regionen aktiviert sind, erleben wir Schmerz sehr unmittelbar. Die Veränderung geschieht jedoch schrittweise: neue neuronale Verknüpfungen entstehen, alte verlieren an Kraft. Subjektiv wirkt das, als würde nichts passieren – bis wir plötzlich merken: Es ist leichter geworden.
Zeit heilt Wunden – aber warum manchmal nicht?
Die Redewendung hat einen wahren Kern. Emotionale Verarbeitung bedeutet, dass unser Gehirn wiederholt alte Muster aktiviert und sie allmählich abschwächt – ein Prozess der Neuroplastizität. Doch es gibt auch Wunden, die nicht „einfach so“ verschwinden. In manchen Fällen entwickeln Menschen posttraumatisches Wachstum: Sie berichten, dass sie durch den Schmerz gereift sind, neue Stärken oder Sinn gefunden haben (Tedeschi & Calhoun, 2004).
Die Narben-Metapher biologisch erklärt
Körperliche Narben bestehen aus weniger elastischem Bindegewebe. Sie können auch lange nach der Heilung Druck oder dumpfe Schmerzen verursachen (Järvinen et al., 2005). Ähnlich verhält es sich bei emotionalen „Narben“: Auch wenn die akute Verletzung vorbei ist, sind bestimmte neuronale Bahnen empfindlicher. Bestimmte Trigger können alte Gefühle wieder hervorrufen – aber in abgeschwächter Form.
Warum wir so kopflastig werden
Viele greifen in Zeiten des Schmerzes auf Bücher, Seminare und Achtsamkeitsübungen zurück. Diese Strategien aktivieren den präfrontalen Kortex, der versucht, die Amygdala zu regulieren. Wir fühlen uns dann rational, analysierend, nicht unbedingt „heilend“ (Ochsner & Gross, 2005). Das ist anstrengend – aber Teil des Prozesses.
Das „Puff“-Gefühl
Oft ist es ein gradueller, unsichtbarer Heilungsprozess, der plötzlich bewusst wird. Man könnte sagen: Das Gehirn überschreitet eine Schwelle. Neue Netzwerke sind stark genug, die alten zu überlagern. Für uns fühlt es sich dann wie ein plötzlicher Durchbruch an.
Heilung geschieht im Stillen. Während wir glauben, auf der Stelle zu treten,
arbeitet unser Körper, arbeitet unser Gehirn. Was bleibt, sind nicht immer Narben, die uns hemmen, sondern Spuren, die uns erinnern: Wir sind gewachsen.
Vielleicht ist das Schönste an der Heilung nicht, dass wir sie planen oder erzwingen können. Sondern dass sie uns eines Tages überrascht – wie ein Gast, den wir nicht erwartet haben.
Quellen
McEwen, B. S. (2007). Physiology and neurobiology of stress and adaptation: central role of the brain. Physiological Reviews, 87(3), 873–904.
Tedeschi, R. G., & Calhoun, L. G. (2004). Posttraumatic growth: Conceptual foundations and empirical evidence. Psychological Inquiry, 15(1), 1–18.
Järvinen, T. A., Järvinen, T. L., Kääriäinen, M., Kalimo, H., & Järvinen, M. (2005). Muscle injuries: biology and treatment. The American Journal of Sports Medicine, 33(5), 745–764.
Ochsner, K. N., & Gross, J. J. (2005). The cognitive control of emotion. Trends in Cognitive Sciences, 9(5), 242–249.


