ALLES BLEIBT WIE ES IST!
- NATTY

- 8. Mai
- 3 Min. Lesezeit

Die Trägheit des Bekannten
Der sogenannte Status-quo-Bias beschreibt die kognitive Tendenz, den bestehenden Zustand – unabhängig von dessen objektiver Qualität – gegenüber möglichen Veränderungen zu bevorzugen.
Diese Verzerrung tritt bei den meisten Menschen in verschiedensten Lebensbereichen auf (Samuelson & Zeckhauser, 1988).
Trotz der natürlichen Neugier und der Suche nach Abwechslung, die viele Menschen grundsätzlich verspüren, scheinen wir besonders dann zur Passivität zu neigen, wenn es um Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen geht – etwa in Fragen der Partnerschaft oder Lebensgestaltung.
In solchen Momenten wiegt das Sicherheitsgefühl des Vertrauten oft schwerer als die ungewisse Verheißung des Neuen. Evolutionär betrachtet erfüllt dieses Verhalten eine schützende Funktion. In einer Welt, in der das bloße Überleben oberste Priorität hatte, war es klüger, in einem bewährten, sicheren Umfeld zu verweilen, als sich dem Risiko einer unbekannten, potenziell gefährlichen Umgebung auszusetzen (Kahneman, 2011).
Doch in einer Gesellschaft, in der nicht nur das Überleben, sondern auch die Lebensqualität von Bedeutung ist, kann dieser Schutzmechanismus zur inneren Barriere werden – insbesondere dann, wenn Veränderungen eigentlich notwendig oder sogar heilsam wären.
Um uns aus der Lähmung des Status quo zu lösen, bedarf es vor allem eines: Mut. Denn hinter der Vorliebe für das Bekannte verbirgt sich in vielen Fällen Angst – Angst vor Verlust, Versagen oder Einsamkeit. Diese Angst ist menschlich, doch sie lässt sich mit kleinen Schritten überwinden.
Indem wir im Alltag bewusst neue Wege gehen, neue Menschen kennenlernen und uns auf alternative Lebensentwürfe einlassen, stärken wir unsere psychische Flexibilität (Nussbaum, 2010). Vielleicht wird uns das nicht sofort von der Angst befreien, etwa eine Beziehung loszulassen – aber es kann unsere Resilienz fördern, mit dieser Angst zu leben und dennoch Entscheidungen zu treffen, die langfristig gut für uns sind.
WIR MACHEN EINFACH NICHTS!
Ein weiterer kognitiver Trugschluss, der unsere Entscheidungen maßgeblich beeinflusst, ist der sogenannte Omission-Commission-Bias. Er beschreibt die psychologische Tendenz, die negativen Konsequenzen aktiven Handelns als schwerwiegender zu bewerten als jene, die durch Unterlassen entstehen (Ritov & Baron, 1990). Mit anderen Worten:
Wir fürchten uns mehr davor, eine falsche Entscheidung zu treffen, als davor, gar keine zu treffen – selbst wenn die Passivität ebenfalls schadet.
Ein Grund dafür liegt vermutlich darin, dass Handlungen mit einer bewussten Willensanstrengung verbunden sind und daher stärker mit persönlicher Verantwortung verknüpft werden. Das Nichtstun wirkt passiver, beinahe neutral – obwohl es genauso folgenschwer sein kann.
Dieses psychologische Muster ist tief verwurzelt, doch es führt in vielen Fällen zu einem verzerrten Umgang mit Schuld und Verantwortung. Juristisch ist diese Asymmetrie längst relativiert: In vielen Ländern ist etwa das Unterlassen von Hilfeleistung strafbar, was zeigt, dass auch Nichthandeln Konsequenzen trägt (Fischer & Ravizza, 1998).
In zwischenmenschlichen Beziehungen bedeutet das:
Wenn wir spüren, dass uns eine Verbindung schadet, ist auch das fortwährende Verharren eine Entscheidung – mit all ihren Konsequenzen.
Ob wir etwas bereuen, hängt selten nur von der Handlung selbst ab, sondern vielmehr von deren Kontext und der inneren Haltung, mit der wir sie treffen. Studien zeigen, dass Menschen langfristig häufiger das bereuen, was sie nicht getan haben (Gilovich & Medvec, 1995). Es lohnt sich also, der Angst vor der Handlung nicht zu viel Gewicht beizumessen – besonders dann, wenn die Argumente für einen Schritt klar auf der Hand liegen.
Mut zur Verantwortung in Beziehungen
Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, wann der richtige Moment gekommen ist, eine Beziehung zu beenden. Doch es gibt Indikatoren, die darauf hindeuten, dass eine Verbindung nicht mehr förderlich ist: Wenn sie uns dauerhaft erschöpft, unsere emotionale Gesundheit beeinträchtigt oder uns in unserer Entwicklung hemmt. Beziehungen sollten Räume der Sicherheit, des Wachstums und der gegenseitigen Unterstützung sein – nicht Quellen von Leid und Stillstand (Brown, 2012).
Natürlich können wir Gründe finden, in einer belastenden Beziehung zu verbleiben. Doch wenn diese Gründe primär auf Angst, Selbsttäuschung oder kognitiven Verzerrungen beruhen, dann sind sie keine tragfähige Entscheidungsgrundlage. Echte Klarheit entsteht nicht durch das bloße Festhalten – sondern durch den bewussten, ehrlichen Blick auf das, was ist, und den Mut, entsprechend zu handeln.
Quellen:
Brown, B. (2012). Daring Greatly. Gotham Books.
Fischer, J. M., & Ravizza, M. (1998). Responsibility and Control: A Theory of Moral Responsibility. Cambridge University Press.
Gilovich, T., & Medvec, V. H. (1995). "The experience of regret: What, when, and why." Psychological Review, 102(2), 379–395.
Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Giroux.
Nussbaum, M. C. (2010). Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities. Princeton University Press.
Ritov, I., & Baron, J. (1990). "Reluctance to vaccinate: Omission bias and ambiguity." Journal of Behavioral Decision Making, 3(4), 263–277.
Samuelson, W., & Zeckhauser, R. (1988). "Status quo bias in decision making." Journal of Risk and Uncertainty, 1(1), 7–59.


