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DRITTE GENERATION

  • Autorenbild: NATTY
    NATTY
  • 18. Apr. 2023
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. Mai


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Das Erbe der Gefühle


In der transgenerationalen Trauer begegnen wir Emotionen, die scheinbar keinen Ursprung in unserem eigenen Leben haben. Sie tauchen unerwartet auf, sind oft überwältigend und lassen sich schwer einordnen.


Obwohl sie sich absolut real und intensiv anfühlen, signalisiert unser Verstand: Diese Gefühle passen nicht zu meiner aktuellen Lebenssituation. 

Diese Diskrepanz zwischen Emotion und Intellekt verwirrt – und sie schmerzt.

Wie kann es also sein, dass wir Gefühle erleben, die nicht aus unserer eigenen Biografie zu stammen scheinen? Die Antwort findet sich in der Erforschung von Traumata und ihrer Wirkung über Generationen hinweg. Tiefe seelische Erschütterungen – etwa durch Krieg, Vertreibung, Verlust oder Missbrauch – können so stark sein, dass sie nicht nur das Leben der direkt Betroffenen prägen, sondern auch Spuren im emotionalen Erbe ihrer Nachkommen hinterlassen. Man spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass Traumata „in die DNA eingeschrieben“ werden – sinnbildlich für die tiefe Verankerung im Familiensystem.


Die Wissenschaft untersucht dieses Phänomen inzwischen intensiv unter dem Begriff der transgenerationalen Weitergabe von Trauma.

Dieses Phänomen wirkt im Verborgenen. Es geschieht unbewusst, ungewollt – und doch kann es das emotionale Erleben der Nachfolgegeneration tief beeinflussen. Menschen leiden plötzlich unter Ängsten, unter diffusen Schuldgefühlen oder unter einer tiefen Traurigkeit, die sie sich nicht erklären können.

Ein Beispiel: In Zeiten des Krieges wurden viele Frauen von ihren Partnern getrennt – oft für Jahre, manchmal für immer. Die Sehnsucht, die Unsicherheit, die tägliche Angst um das Leben des geliebten Menschen prägte das Leben ganzer Familien. Diese existenzielle Bedrohung und der Schmerz über den Verlust wurden selten verarbeitet, sondern oft verdrängt – und doch lebten sie in den Familien weiter. In späteren Generationen können solche unbewussten Erfahrungen als Verlustangst wieder auftauchen – ausgelöst durch Situationen, die objektiv betrachtet keinen Grund zur Sorge bieten.

Und aus Verlustangst kann, je nach Lebensumständen und Beziehungserfahrungen, schnell Eifersucht werden – ein Gefühl, das in seiner Intensität oft nicht nachvollziehbar scheint, aber ein tiefes Echo alter, weitergegebener Erfahrungen ist.

Wer also unter scheinbar unbegründeten emotionalen Belastungen leidet, dem kann ein Blick in die eigene Familiengeschichte helfen. Oft liegt dort ein Schlüssel für das eigene Empfinden – und die Möglichkeit zur Heilung. Denn das Verstehen, das bewusste Anerkennen dieser Erbschaften, ist der erste Schritt zur inneren Befreiung.





Epigenetik: Traumaspuren im Erbgut

Ein möglicher biologischer Mechanismus ist die epigenetische Veränderung. Studien zeigen, dass extreme Belastungen wie Krieg, Flucht oder Missbrauch epigenetische Marker verändern können – das sind molekulare „Schalter“, die Gene ein- oder ausschalten, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern. Diese Veränderungen können – so der aktuelle Forschungsstand – über die Keimbahn an Nachkommen weitergegeben werden.

Ein bekanntes Beispiel ist die Studie von Rachel Yehuda (2014), die bei Nachkommen von Holocaust-Überlebenden epigenetische Veränderungen im Stresshormon-System (insbesondere dem NR3C1-Gen, das für die Regulation von Cortisol verantwortlich ist) nachweisen konnte. Diese Nachkommen zeigten eine erhöhte Anfälligkeit für posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Depressionen und Angststörungen.


Psychologische und systemische Perspektive

Neben biologischen Prozessen spielt die familiäre Kommunikation (oder das Schweigen darüber) eine große Rolle. Unerzählte Geschichten, unausgesprochene Traumata oder dysfunktionale Beziehungsmuster werden oft unbewusst weitergegeben. In der systemischen Therapie spricht man hier vom „emotionalen Familienskript“, das über Generationen weiterwirkt.

Der österreichische Psychiater und Psychoanalytiker Ivan Boszormenyi-Nagy sowie Anne Ancelin Schützenbergerbetonten die Rolle der „unsichtbaren Loyalitäten“ innerhalb von Familiensystemen. Kinder und Enkel übernehmen unbewusst Gefühle und Verhaltensmuster, um das Gleichgewicht im System zu erhalten – selbst wenn das bedeutet, Leid weiterzutragen.


Die Erforschung transgenerationaler Traumata steht noch am Anfang, aber zahlreiche Studien bestätigen: Unverarbeitete traumatische Erfahrungen können psychisch, emotional und möglicherweise sogar biologisch an Kinder und Enkel weitergegeben werden. Wer unter unerklärlichem emotionalem Leidensdruck steht, sollte daher auch einen Blick auf die familiäre Vergangenheit werfen. Denn oft liegt in der Anerkennung dieser Verbindungen der erste Schritt zur Heilung und zum Verständnis der eigenen emotionalen Welt.


Wissenschaftliche Quellen und weiterführende Literatur:

  1. Yehuda, R., Daskalakis, N. P., et al. (2014). Holocaust exposure induced intergenerational effects on FKBP5 methylation. Biological Psychiatry, 80(5), 372–380.

  2. Schore, A. N. (2001). The effects of early relational trauma on right brain development, affect regulation, and infant mental health. Infant Mental Health Journal, 22(1-2), 201–269.

  3. Hüther, G. (2013). Biologie der Angst: Wie aus Stress Gefühle werden. Vandenhoeck & Ruprecht.

  4. Schützenberger, A. A. (1998). The Ancestor Syndrome: Transgenerational Psychotherapy and the Hidden Links in the Family Tree.

  5. Boszormenyi-Nagy, I., & Krasner, B. R. (1986). Between Give and Take: A Clinical Guide to Contextual Therapy.


 
 
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