LOSLASSEN
- NATTY
- 18. Feb.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Apr.

Ein neuer Blick auf Veränderung
Loslassen gehört zu den größten Herausforderungen des Lebens – für manche mehr, für andere weniger. Doch es ist kein Zeichen von Aufgeben oder Versagen. Loslassen bedeutet nicht, etwas zu verlieren, sondern Raum für Neues zu schaffen. Es ist die Kunst, sich selbst die Erlaubnis zu geben, weiterzugehen, ohne die Vergangenheit auszulöschen. Vielleicht blicken wir eines Tages zurück und erkennen: Ich habe festgehalten, als es nötig war. Und ich habe losgelassen, als es an der Zeit war. Denn nur wenn wir loslassen, öffnen wir unser Leben für das, was noch kommen kann.
Wenn Loslassen mit Angst verbunden ist
Nicht jeder kann einfach loslassen. Besonders für diejenigen, die als Kind erfahren haben, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist oder Nähe keine Selbstverständlichkeit war, kann der Gedanke an Trennung Angst auslösen – sei es von Menschen, Dingen oder sogar von bestimmten Lebensphasen.
Kinder, die früh lernen, dass Bindung zerbrechlich ist – weil Liebe nur für gutes Verhalten gewährt wurde oder Bezugspersonen unberechenbar waren – entwickeln oft eine tiefe innere Unsicherheit. Wann immer sie Zuneigung spüren, fürchten sie insgeheim, dass sie ihnen wieder entzogen wird. Sie lernen, sich anzupassen, Erwartungen zu erfüllen, leise zu sein – nur um nicht zu riskieren, verlassen zu werden.
Dieses Muster begleitet sie oft bis ins Erwachsenenalter. Weil sie nie sicher sein konnten, ob sie wirklich geliebt wurden, halten sie später umso fester – an Beziehungen, Erinnerungen, Gegenständen oder alten Lebensentwürfen. Sie klammern sich an Ankerpunkte vergangener Lebensphasen, auch wenn diese längst abgeschlossen sind.
Manche nehmen sogar wirtschaftliche Belastungen auf sich, nur um sich die Möglichkeit offenzuhalten, in die Vergangenheit zurückzukehren. Trotz einer Trennung bleiben Unternehmungen monatelang bestehen, Abonnements werden nicht gekündigt, der Kleiderschrank bleibt unangetastet – als könne man die Zeit noch einmal zurückdrehen. Freunde müssen oft drängen, bis sie sich wieder ins soziale Leben wagen – und selbst dann geschieht es mit innerer Zerrissenheit. Manche stürzen sich überstürzt in neue Dates, nicht aus echtem Interesse, sondern um einen keilartigen Abstand zwischen sich und der Vergangenheit zu treiben. Denn für sie gibt es beim Loslassen nur zwei Extreme: Entweder man bleibt – oder man reißt sich mit roher Gewalt los, als würde man ein Pflaster in einem einzigen, schmerzhaften Ruck abreißen.
Doch Loslassen ist kein alles oder nichts. Es ist kein Sprung ins Ungewisse, sondern ein langsames, behutsames Lösen – ein Prozess, der Zeit braucht. Heilung geschieht nicht durch Flucht oder starres Festhalten, sondern wenn wir uns erlauben, in der Gegenwart anzukommen – mit all dem Schmerz, aber auch mit der Möglichkeit, dass etwas Neues entstehen kann.
Wie sich die Angst zeigt – und wie wir ihr begegnen können
Diese Angst vor dem Loslassen zeigt sich auf unterschiedliche Weise:
In Beziehungen: Manche Menschen klammern sich an Partner, aus Angst, nicht genug zu sein oder verlassen zu werden. Andere vermeiden neue Beziehungen, weil jede Form von Bindung auch die Möglichkeit der Trennung in sich trägt.
Bei materiellen Dingen: Wer Loslassen mit Verlust gleichsetzt, kann sich schwer von Gegenständen trennen – selbst wenn sie keinen praktischen Nutzen mehr haben. Alte Kleidung, Bücher, Erinnerungsstücke oder längst überholte Lebensentwürfe werden zur Sicherheit, zur greifbaren Vergangenheit.
Im Umgang mit Veränderungen: Ob ein Jobwechsel, ein Umzug oder das Beenden einer überdauerten Freundschaft – jede Form von Veränderung wird als bedrohlich empfunden. Das Festhalten am Gewohnten vermittelt Kontrolle und Stabilität, selbst wenn die Situation längst nicht mehr guttut.
Die Angst überwinden – ein neues Verständnis von Loslassen
Das Festhalten ist eine Schutzstrategie aus der Vergangenheit. Doch sie ist nicht in Stein gemeißelt – sie kann hinterfragt, verstanden und neu bewertet werden.
Loslassen bedeutet nicht den Verlust von Liebe. Nähe ist nicht daran gebunden, dass etwas bleibt. Man kann Menschen lieben und gleichzeitig loslassen, wenn es notwendig ist. Erinnerungen können wertvoll sein, ohne dass wir uns an Dinge oder Personen klammern müssen.
Sicherheit kommt von innen. Wer lernt, sich selbst Stabilität zu geben – durch Selbstvertrauen, durch ein stabiles soziales Umfeld und durch bewusste Entscheidungen –, muss nicht mehr zwanghaft an äußeren Dingen festhalten, um sich sicher zu fühlen.
Veränderung ist kein Feind. Oft halten wir an Dingen fest, weil wir Angst haben, dass das, was danach kommt, schlechter sein könnte. Doch was, wenn das Gegenteil der Fall ist? Was, wenn Loslassen nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem ist?
Loslassen ist ein Prozess, der Mut erfordert – aber er kann auch befreiend sein. Denn wenn wir verstehen, dass Liebe nicht an Bedingungen geknüpft sein sollte, wird klar:
Was wirklich bleibt, ist das, was freiwillig bleibt.
Festhalten – Ein zutiefst menschliches Bedürfnis
An Menschen, an Dingen, an Erinnerungen festzuhalten, ist ein Urinstinkt. In manchen Situationen ist es sogar überlebenswichtig. Schon Säuglinge besitzen einen angeborenen Klammerreflex, den sogenannten Moro-Reflex. Als Reaktion auf plötzliche Reize strecken sie ruckartig Arme und Beine von sich, bevor sie die Arme wieder zur Brust ziehen – als würden sie sich instinktiv an etwas festhalten. Dieser Reflex dient vermutlich dazu, sich in Gefahrensituationen an die Mutter zu klammern. Nach wenigen Monaten verschwindet er, wenn das Nervensystem weiter gereift ist.
Doch unser Bedürfnis nach Sicherheit bleibt – ein unsichtbares Band, das uns leitet, oft ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Auch in der Liebe zeigt sich dieser Urinstinkt: Vor allem in der ersten Phase einer Beziehung flutet unser Gehirn uns mit Signalen, die das Festhalten fördern. Wir sehnen uns nach Nähe, nach Bestätigung, nach diesem unerschütterlichen Gefühl, dass wir angekommen sind. Denn aus evolutionärer Sicht ist Bindung nicht nur ein schönes Gefühl – sie ist überlebenswichtig.
Wer verbunden ist, ist geschützt.
Wer bleibt, sorgt für Beständigkeit.
Und wer sich hält, fällt nicht.
Doch es ist nicht nur die Biologie, die uns antreibt. Auch unsere Kultur prägt uns. Wir wachsen mit dem Gedanken auf, dass Festhalten eine Tugend ist. Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen, niemals aufgeben – das sind Werte, die in unserer Gesellschaft hochgeschätzt werden. Wer loslässt, wer etwas beendet, wer sich von einem Traum oder einer Beziehung löst, wird oft als jemand gesehen, der gescheitert ist.
Dabei ist Loslassen nicht immer ein Verlust. Manchmal ist es die größte Form von Stärke.
Doch das zu erkennen, braucht Mut – und manchmal auch die Bereitschaft, in der Unsicherheit stehenzubleiben, bis sich ein neuer Weg zeigt.